Hans öffnete seine Frühstücksdose, holte einen Holzsplitter der saftigen Zeder heraus, biss hinein und nickte. Dann hob er seinen Kopf nur ein kleines Stück, schaute in die Runde und fragte: „Wisst ihr eigentlich, was mir passiert ist?“
Und so begann die nächste unglaubliche Geschichte…
„Ich habe da einen Bericht gelesen. Vor langer Zeit gab es in einem Land, weit weg von hier und mit dem fast unaussprechlichen Namen Kanada (was auszusprechen für Holzwürmer aus welchen Gründen auch immer tatsächlich ein Problem darstellte und den Eindruck hinterließ, als hätten Sie einen dicken Knoten in der Zunge) einen ungewöhnlichen Wettbewerb: die Teilnehmer sollten, egal auf welche Weise, in ein 5 cm dickes Brett eines Zucker-Ahorns ein dünnes Loch bohren. Von einer Seite auf die andere. Der Durchmesser durfte höchstens einen halben Zentimeter betragen. Ich sage euch, ein solches Holz habt ihr noch nie bearbeitet! Es ist elastisch und zäh, gleichzeitig aber auch sehr hart! In jedem Jahr versuchten manche Teilnehmer, ein solches Loch mit Hammer und Nagel zu schlagen. Das war natürlich total lächerlich. Wie will man denn in einen elastischen Gegenstand einen Nagel klopfen? Die haben mit dem Hammer darauf gehauen wie wild. Das Holz gab bei jedem Schlag etwas nach und federte zurück. Der Nagel hüpfte im Prinzip hin und her wie auf einem Gummi. Wer ihn nicht richtig festhielt, dem sprang er in oder um die Nase. Andere Möglichkeit: Bohren? Klang erst mal plausibel. Warum nicht? Aber das war unmöglich! Das Holz war so zäh, es wickelte sich um den drehenden Bohrer und blockierte ihn. Schlimmer als Kaugummi. Ihr glaubt nicht, was sich die Menschen alles einfallen ließen!“
Nickend schaute Hans in die Runde.
Xaver rief: „Man könnte es doch hineinschaben, immer hin und her! Dauert zwar etwas, aber es müsste gehen. Wenn es einfach wäre ein Loch dort hinein zu schaffen, müsste man ja keinen Wettbewerb daraus machen!“
„Genau“ – „Ja, das stimmt“ oder „Ist doch vollkommen logisch“ war vielstimmig zu hören.
Hans schüttelte leicht den Kopf und es wurde wieder still.
„Viele Leute haben sich natürlich auch schabend versucht, immer nur ein kleines Stück hin und her. Aber einen halben Zentimeter breit bis auf die andere Seite? Totale Feinarbeit. Für die ersten ein oder zwei Zentimeter okay. Aber dann? Je tiefer geschabt werden würde, desto schwieriger würde es mit dem halben Zentimeter. Nein, fast unmöglich! Für einen Menschen jedenfalls. Es stand in diesem Bericht zu lesen, dass es in den vergangenen Jahren niemand schaffte, ein Loch unter Einhaltung sämtlicher Auflagen hinzubekommen. Noch nie war es jemandem gelungen. Noch nie! So kam es, dass sich Jahr für Jahr mehr und mehr Teilnehmer aus aller Welt anmeldeten. Auch diesmal wieder. Es war sogar eine Rekordbeteiligung, stand geschrieben! Ausgerechnet jetzt, wo ich diesen Bericht in die Hand bekam und unbedingt mitmachen wollte. Egal. Nicht einmal das konnte mich von einer Teilnahme abhalten. Denn der Gewinner sollte – haltet euch fest - einen Flug in einem Jagdflugzeug erhalten! In einem Tornado! Damit über die weiten Wälder Kanadas fliegen, leckeres Holz unter sich haben und direkt hinter dem Piloten sitzen dürfen!“
Mit weit aufgerissenen Augen schauten die Holzwürmer zu Hans hinüber! Ein Flug in einem Tornado über die leckersten Wälder Kanadas! Wer wollte das nicht? Der Traum eines jeden Holzwurms...
Michael war noch immer erstaunt: „Über die weiten Wälder Kamblblblas?“ Er machte eine kurze Pause und fragte hinterher: „Wie machst du das nur, dass du Kamblblblas so fehlerfrei aussprechen kannst? Ich kriege das nicht hin. Hör: Kamblblbla. Wie heißt das Land doch gleich?“
Hans wiederholte: „Kanada. Über die weiten Wälder Kanadas. Am Ende des Berichts stand übrigens noch der Anmeldeschluss für alle Teilnehmer. Als ich den Termin erkannte, stockte mir der Atem. Das war an diesem Tag. Bereits um 16.30 h!“
Wieder nickte er und begann zu grinsen: „Stellt euch vor, meine Uhr zeigte 16.28 h. Nicht 14 Uhr 28 oder 15 Uhr 28, nein, sie zeigte 16 Uhr 28. Nur noch zwei Minuten Zeit.“
Erschrockene Holzwürmer mit weit aufgerissenen Augen sahen zu ihm herüber. Die Zuhörer litten förmlich unter dem Scheitern der Anmeldung: „So knapp verpasst, du armer Kerl“ - „Oh nein, was bist du für ein Pechwurm!“ (das Wort ‚Pechvogel’ wurde unter Holzwürmern vermieden, denn Vögel gehörten schließlich zu ihren Feinden!).
Hans winkte ab: „Seid geduldig, meine Freunde, seid geduldig! 16 Uhr 28 - da blieb mir keine Zeit zum Überlegen! Ich also schnellstens ans Telefon und die angegebene Nummer gewählt! Bis ich endlich ein Rufzeichen hatte, war die Zeit schon fast vorüber. Kaum noch Hoffnung auf eine Anmeldung.“
Nun biss Hans in seinen saftigen Splitter der Zeder und erhöhte die Spannung.
„Wie eben gesagt: das Rufzeichen ertönte. Endlich meldete sich eine Stimme in fast unverständlichem Englisch. Sie sagte: ‚Wenn Sie sich beeilen, können Sie sich noch anmelden, Ihnen bleiben dazu elf Sekunden Zeit.’ Elf Sekunden! Ich glaube, so schnell habe ich noch nie mit irgendwem gesprochen. Zum Glück ist es für Namen egal ob sie in Englisch sind oder nicht. Auf jeden Fall hat es geklappt. Wenige Tage später hielt ich meine persönliche Teilnahmebestätigung samt Flugticket in der Hand, welch tolles Gefühl. Auf den Papieren stand: Hans Holzwurm, Fichtenwald 4, Trockenstamm.“
„Hey, das ist doch unsere Adresse!“, rief Ludwig.
„Na klar, ich musste doch meine Anschrift angeben – ohne die wäre eine Teilnahme nicht möglich gewesen!“
Ludwig winkte ab: „Ja klar, hätte ich mir sparen können. Logisch. Ohne Anschrift geht gar nichts!“ Die übrigen Holzwürmer und Holzwürmerinnen nickten. Sie hatten sich zwar noch nirgends angemeldet und wussten auch nicht, dass man dazu eine Adresse brauchte – aber sie dachten, Zustimmung würde sich in einem solchen Fall gut machen.
Hans nahm seine Erzählung wieder auf: „In den nächsten Tagen trainierte ich wie wild, habe mich durch tausende Hölzer gefressen und glaubte, für den Wettkampf gut gerüstet zu sein. So fit war ich noch nie!
Endlich kam der Tag des Abflugs nach Kanada (schon wieder fehlerfrei ausgesprochen).“
Michael versuchte sich im Stillen, scheiterte aber jedes mal. Er war nicht der einzige am Tisch, der „Kanada“ lautlos auszusprechen versuchte. Wenn es Hans schaffte, mussten es die anderen doch auch können. Glaubten sie. Aber es war eben schwierig auszusprechen. Für einen Holzwurm.
Hans tat so, als habe er von alledem nichts bemerkt: „Am Flughafen angekommen, schlenderte ich mit meinem Koffer gemütlich zum Check-In. Dort nahmen sie mir meinen Koffer ab und sagten mir ‚Ihr Flug startet in zwei Stunden, bitte begeben Sie sich zu Gate sieben, das befindet sich auf der rechten Seite des gesicherten Bereichs.’ Ich denke ‚Waaas? In zwei Stunden schon? Wie soll ich das schaffen? Bis zu Gate sieben?’ Wisst ihr überhaupt, wie weit das war? Ich würde Tage brauchen um dort anzukommen!“
Hans sah in die Runde, betroffene Gesichter schauten ihn an. Otto meinte: „Oh nein! So nah dran und doch so weit weg. Nah am Wettkampf, weit weg vom Einstieg zum Flugzeug! Du hast aber auch ein Pech.“
Hans hob die rechte Hand und lächelte: „Ihr wisst ja, dass ich ein cleverer Bursche bin! Als der nächste Passagier am Schalter stand und gesagt bekam ‚Gate sieben bitte’, bin ich sofort auf seinen Schuh gesprungen und habe mich am Schnürsenkel festgeklammert. Schon knappe zehn Minuten später saß der Typ im Wartebereich – und ich mit ihm.“
Ein Raunen ging durch die frühstückenden Holzwürmer. Dass Hans clever war, das wussten sie. Aber so clever? Alle Achtung.
Hans fuhr fort:...
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